Vor und zurück und wieder wechseln

Vanessa kommt gerne zum Tanztraining, einfach weil es Spaß macht in Bewegung zu sein. Ihr Rollstuhl ist dabei kein Hindernis. 

Von Sarah Barth

Sarah Barth (Abitur 2012) nahm am Projekt „Jugend schreibt“ der „Frankfurter Allgemeinen“ (FAZ) teil. Sie ist Jugend-schreibt-Preisträgerin 2011/2012. 

„When I see your face, there’s not a thing that I would change, cause you’re amazing just the way you are“, tönt es aus den zwei schwarzen Lautsprecherboxen am Hallenboden. Die Passage aus dem Charterfolg eines Popsternchens passt zu den 13 Tänzern. Sie formieren sich zu einem Kreis. „Auseinander – tip. Auseinander – tip“, gibt die blond gelockte Tanzlehrerin um die Vierzig ihre Anweisungen. Allerdings fliegen nicht nur Beine über das Parkett. Vorsichtig umgreift die 25-jährige Vanessa Gansloser die beiden schwarzen Gummireifen und setzt ihren „Rolli“ in Bewegung. Sie trägt rote Fahrradhandschuhe. Einmal im Monat trifft sich die junge Frau mit fünf anderen Rollstuhlfahrern zum Tanzen in der kleinen Sporthalle in Unterkochen, einem Stadtbezirk von Aalen.

Deutschlands beste Nachwuchsreportagen kommen (erneut) vom Rosenstein-Gymnasium

Sarah Barth, Schülerin der Kursstufe am Rosenstein-Gymnasium, konnte sich in Berlin über eine ganz besondere Auszeichnung freuen. Sie erhielt nämlich zusammen mit einem Schüler einer anderen Schule im Berliner Redaktionsgebäude der "Frankfurter Allgemeinen" (FAZ) aus der Hand von Wolfgang Bernhardt, dem Vorsitzenden des Kuratoriums der FAZIT-Stiftung, den FAZIT-Preis „Jugend schreibt" des Projektjahres 2011-2012. Sie hat in ihren Artikeln unter anderem Hobbyhistoriker bei einer Führung über den Limes begleitet und einen exzentrischen Kaffee-Sommelier porträtiert. Die Auszeichnung geht damit zum wiederholten Male an Schülerinnen und Schüler des Rosenstein-Gymnasiums.

„Wow, Lena hast du eine neue Frisur?“, fragt ein Mann mittleren Alters mit dunklen, nach hinten gegeelten Haaren das Mädchen im roten Pullover, lächelt freundlich und macht einen „Tip“ zurück. Lena Lukap ist vierzehn Jahre alt, trägt ihr braunes Haar ganz kurz und sitzt im Rollstuhl. Hinter ihr steht die Mutter. „Alles soll so normal wie möglich sein“, erklärt Sylvia Scheerer. Die Tanzlehrerin aus Ludwigsburg, in weißer Hemdbluse mit dem argentinischen Logo, den zwei Pferden auf der Brust, kam 1992 auf einer Tanzlehrertagung in Hamburg zum ersten Mal mit dem Rollstuhltanz in Berührung. Seither gibt sie auch Tanzstunden für Rollstuhlfahrer. „Die Menschen hier strahlen eine solche Zufriedenheit aus“, sagt sie und zeigt in Richtung Bernd, der kurz nach der Geburt einen Herzstillstand erlitten hat und seit 30 Jahren im Rollstuhl sitzt.

„Das hier macht einfach nur Spaß!“, freut sich Vanessa. Es lässt sie hinweg sehen über all die Situationen, in denen sie hilflos auf „die anderen“ angewiesen ist. Wie neulich vor dem Supermarkt, als ihr die Stufen im Weg waren. Sie hat einen jungen Mann um Hilfe gebeten. „Ich hab’s eilig“, habe dieser entgegnet und sei dann langsam weitergeschlendert. Zum Glück sei dies die Ausnahme, die meisten Menschen reagierten freundlich und zuvorkommend. „Es hilft fast jeder, das Postive überwiegt“, sagt Vanessa und blickt ernst durch die Brillengläser in der roten Metallfassung. Sie leidet an Spina bifida aperta. Durch eine Fehlbildung in der Embryonalentwicklung entsteht in der Wirbelsäule ein Spalt, so dass das Nervengewebe an der betroffenen Stelle freiliegt. „Die Nerven sind zwar da, aber nicht zusammengewachsen“, erklärt sie. Im Kopf hat sie ein Ventil, um die Ableitungsstörung des Hirnwassers zu regulieren. Vom Kniegelenk abwärts spürt sie nichts.

Offen und doch sorgfältig die Worte abwägend, beinahe nüchtern, berichtet sie von ihrer Krankheit, ihren Ängsten, ihren Problemen. Sie hat gelernt, ihren Körper zu akzeptieren, wie er ist, hat aufgehört, Fragen zu stellen. „Mittlerweile ist das Alltag.“ Es klingt nicht resigniert, wenn sie das sagt, nur nüchtern. Früher, als Kind habe sie sich oftmals gefragt: „Warum gerade ich?“ und neidisch auf ihre beiden gesunden Brüder geschaut, wenn die Ball gespielt haben. Heute weiß sie, „es ist ein tolles Gefühl, wenn du merkst, etwas ist möglich“.

Möglich ist für sie beim Tanzkurs sonst jedes Mal mehr. „Ich war die Woche über krank, heute muss ich mich noch ein bisschen schonen“, sagt sie lächelnd und schaut zu, wie die Gruppe einen flotten Jive tanzt. „Es soll nach was aussehen“, betont Scheerer. „Wir tanzen Lateinamerikanisch, Standard, Irisch, all das was andere Tanzschulen auch anbieten, nur auf den Rollstuhl ausgelegt.“ Bei ihren Auftritten werden die Tänzer für die harte Arbeit belohnt. Das Land Baden-Württemberg hat das Projekt ausgezeichnet.

Vor der Fensterfront tanzen Lena und ihre Mutter. Die Beiden sind sich gegenüber, das Mädchen im Rollstuhl und die Mama. Die rechte Hand reicht das Mädchen ihrer Mutter, mit der anderen umfasst sie ihr Rad. Sie fährt nach vorn, die Frau im grauen, langärmligen T-Shirt macht einen Schritt zurück. Dann Wechsel: Mit der rechten Hand greift die Mutter jetzt nach dem Rollstuhl ihrer Tochter und führt ihn. Die linke Hand gibt sie Lena. Das Mädchen lacht, Claudia Lukap, die junge Mutter mit der roten Bobfisur, sieht abgespannt aus.

„Wow, toll macht ihr das!“, ruft ihnen Ulrike Hieber zu. Die zierliche Frau mit dem freundlichen Lächeln ist die erste Vorsitzende des Körperbehindertenvereins Ostwürttemberg, dem Initiator des Rollstuhltanzkreises. 120 zählt die örtliche Niederlassung in Aalen-Unterkochen, Angehörige von Betroffenen, aber auch sozial Engagierte. Das bundesweite Netz des Vereins setzt sich für die gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderung ein, bietet kostenlosen Rechtsbeistand, sorgt für barrierefreies Bauen.

Für Bernd, Vanessa, Lena und ihre Mutter sind das nicht nur politische Leerformeln. Stolz berichtet Vanessa von ihrer neuen Arbeitsstelle in einer Bibliothek, die der Verein ihr vermittelt hat. „Ich bin einfach froh, dass es das hier gibt“, sagt Vanessa über den 2007 ins Leben gerufenen Rollstuhltanz. „Leider Gottes sind wir nicht so viele, wie man sich wünscht“, bedauert Ursula Hieber. Sie beobachtet zwar reges Interesse an den Vereinsprojekten, vor einer Verpflichtung scheuten allerdings viele zurück. „Vor allem an jungen Leuten fehlt es uns“, sagt sie und blickt in die Runde. Tatsächlich sind die anwesenden „Läufer“ vor allem Familienangehörige.

„Die Krankenkasse macht wieder Stress“, klagt ein stämmiger Mann im gestreiften Hemd. Neben ihm im Rollstuhl sitzt seine Tochter. Die Radspeichen an ihrem „Rolli“ werden von einer lila Plastikverkleidung verdeckt, darauf steht in großen Lettern „Elly“. Das Mädchen ballt die Hände zur Faust. „Das machen sonst Säuglinge“, murmelt ihr Vater und blickt seine Tochter an. Um die Handfläche zu entlasten trägt sie ein rotes etwa fünf Zentimeter breites Band aus Silikon um beide Hände. Die Krankenkasse ist der Meinung, Plastik würde ausreichen, und weigert sich zu zahlen. Dieser Kampf mache mürbe, sagt Ellys Vater. Das Mädchen sitzt da, einen Latz um den Hals, blickt mal starr zu Boden, mal hebt sie den Kopf. Ihr Vater schiebt sie und tänzelt dabei ein bisschen hinterm Rollstuhl. Plötzlich schreit Jürgen Schwoer begeistert auf: „Woah, Elly, ich bin von den Socken, so weit hast du deine Arme noch nie vorne gehabt. Das ist ja super!“ Das Mädchen macht den Mund weit auf und lacht.

„So eine harmonische Familie“, freut sich die Tanzlehrerin und deutet auf eine junge Frau mit langen, blonden Haaren und einen Mann mittleren Alters im Hemd. Vater und Tochter tanzen beschwingt um den 30-jährigen Timo. „Wenn wir hier herfahren, dann wacht er plötzlich auf“, lacht Timos Schwester Lea. Jetzt ist Timo Tretters Kopf zur Seite weggenickt. Er hat die Augen geschlossen und sitzt in seinem blauen Rollstuhl, der mit der hohen Lehne und der Polsterung an einen Stuhl auf Rädern erinnert.

Längst nicht alle Familien sind so harmonisch wie die Tretters. Es gibt viele alleinerziehende Mütter im Verein. „Die Männer haben es nicht zu ihrem Leben gemacht“, sagt Timos Vater ernst. „Ja, für uns ist das normal, aber das ist es ja nicht.“ Oswald Tretter strahlt Zuversicht aus – keine Verzagtheit. Was sie sich wünschen? „Eine ganz normale Behandlung. Ja, wir sind ja auch nur Menschen“, platzt es aus Vanessa hervor.

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