„Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn der Boden unter den Füßen bebt“, heißt es in einem Lied von Herbert Grönemeyer. Ohne Töne, Sprache, Geräusche zu leben, heißt, in einer anderen Welt zu leben. Alles ist anders, komplizierter.
Von Patrick Henreich
Patrick Henreich (Abitur 2013) schrieb diese Reportage für das Projekt „Zeitung in der Schule“ der „Frankfurter Allgemeinen“ (FAZ). Der vorliegende Text erschien zuerst in der Beilage der „Kleinen Zeitung“ vom September 2011.
Mit einem freundlichen Lächeln begrüßt Tina, eine junge, selbstbewusste Frau mit brünetten schulterlangen Haaren aus Böbingen, ihre Gäste. Nichts deutet darauf hin, dass in ihrem Leben etwas anders oder komplizierter sein könnte. Die 31-Jährige macht einen zufriedenen und ausgeglichenen Eindruck. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet stundenweise als Schneiderin. Und doch unterscheidet sie etwas von anderen: Sie ist gehörlos.
Erst ab einer Lautstärke von 100 Dezibel nimmt sie Geräusche wahr. So würde sie beispielsweise einen Lastwagen, der direkt an ihr vorbeifährt, nicht hören. In der Medizin bezeichnet man jemanden als gehörlos, der Laute bis 90 Dezibel nicht hört. Mit Hilfe ihrer Hörgeräte nimmt sie die Umwelt mehr oder weniger gut wahr. Während des Gesprächs fällt jedoch auf, dass ihre Aussprache etwas verschwommen ist. Mit ihren Augen klebt sie an den Lippen eines Gesprächspartners. „Nur so verstehe ich, was Menschen sagen. Wenn sie einen Bart tragen oder ihren Mund verdecken, ist es für mich nur schwer möglich, dem Gespräch zu folgen.“
Tina erzählt ohne Hemmungen von ihrer Behinderung und inwieweit dieses Handicap ihr Leben komplizierter macht. Das Wertvollste für sie ist unumstritten, dass sie reden gelernt hat. „Mein Vater war sehr streng. Schon von klein auf zwang er mich zu sprechen. Ich musste mir immer Fotoalben ansehen und dann meinem Vater Sachen über die einzelnen Bilder erzählen, um sprechen zu üben.“ In der Familie wusste man zuerst gar nicht, wie man mit der Situation umgehen sollte, da die Behinderung nicht vererbt wurde, sondern durch eine Rötelninfektion der Mutter während der Schwangerschaft hervorgerufen wurde. So besuchte Tina schon im Kleinkindalter neben dem Gehörlosenkindergarten in Dillingen halbtags den „normalen“ Kindi. Auch in der Gehörlosenschule St. Josef in Schwäbisch Gmünd wurde Wert darauf gelegt, dass im Unterricht geredet und nicht durch Gebärdensprache kommuniziert wurde.
Tina erzählt ohne Hemmungen von ihrer Behinderung und inwieweit dieses Handicap ihr Leben komplizierter macht.
„Es war wirklich nicht einfach, aber ich bin froh, dass sich mein Leben heute in der hörenden Welt abspielt. Es isoliert nämlich stark, wenn man nur mit Gehörlosen zusammen ist. Bevor ich meinen jetzigen Mann kennengelemt habe, hatte ich einen gehörlosen Freund, und ich merkte, wie die Sprache darunter gelitten hat. Fast die Ganze Kommunikation lief über Gebärden. Sogar bei Streiten ging es lautlos zu.“ Die Gebärdensprache sei allerdings ein wertvolles Kommunikationsmittel für Gehörlose, die trotz medizinischer Eingriffe und technischer Hilfsmittel keine Laute wahrnehmen können. Über das Mundbild kann man lediglich 30 Prozent ablesen, alles andere muss man versuchen zu erraten. So ist es für solche Menschen sehr schwer, andere über die Lautsprache zu verstehen. Ihre Aussprache ist deshalb oft sehr schlecht. Ein ungeübtes Gehör versteht eine solche Person nur mit Mühe. Oft führt diese absolute Gehörlosigkeit zur Isolation von der hörenden Welt.
„Für mich ist es ein großes Glück, dass ich meinen Mann kennengelernt habe“, sagt Tina. „Er hört ganz normal, und somit bin ich auf die Lautsprache angewiesen und kann nicht in die Welt der Gebärden flüchten“ Sie hat allerdings auch Situationen erlebt, wo sie merkte, dass diese Behinderung mit vielen Vorurteilen verknüpft ist. Sie erzählt, wie sie wegen ihrer Hörgeräte im Sportverein gemobbt wurde. Immer wieder musste sie sich Ausdrücke wie „du taube Nuss“ anhören. Auch von Freunden ihres Sohnes wurde sie unfreundlich und respektlos auf ihre Behinderung angesprochen, ausgelacht und beleidigt. „Es wäre sehr wichtig, dass die Eltem ihre Kinder über solche Behinderungen aufklären. Aber selbst Erwachsene können oft damit nicht umgehen. Ich habe mir schon überlegt, einen Gebärdenkurs für interessierte Eltem anzubieten. Vielleicht baut das manche Hemmschwelle ab.
Obwohl Tina eigentlich keine Kommunikationsprobleme hat, stößt sie hin und wieder an Grenzen. „Beim Autofahren muss ich mich sehr konzentrieren und den laufenden Verkehr viel mehr beobachten als beispielsweise mein Mann. Nur so kann ich zum Beispiel wahrnehmen, wenn sich ein Einsatzwagen der Polizei oder Feuerwehr nähert. Sehr schwierig wird es auch, wenn die Kinder auf dem Rücksitz streiten. Meist übersteigt das meine Konzentrationsfähigkeit, so dass ich anhalten muss.“ Telefonieren kann sie gar nicht. Auch alltägliche Dinge, wie zum Beispiel die Haustürklingel oder den Wecker hört sie nicht.
„Eigentlich fühle ich mich in meiner Lebensqualität nicht so sehr eingeschränkt. Meine beiden Kinder haben durch mein sprachliches Handicap auch keine Einbußen in ihrer Entwicklung. Antonia, meine Tochter, hat jetzt sogar ein Schuljahr übersprungen, da sie in der zweiten Klasse total unterfordert war. Sie und Adrian, mein Sohn, gehen mit meiner Hörbehinderung ganz natürlich um. Manchmal korrigieren sie mich auch, wenn ich etwas falsch sage oder ausspreche.“ Lächelnd schaut Tina zu dem fünfjährigen Adrian, der in der Ecke des Wohnzimmers gerade fernsieht.
Immer wieder taucht Tina doch in eine andere Welt ein: Abends, wenn sie ihre Hörgeräte ablegt, wird es still um sie herum. Dann hört sie die Musik wirklich nur, „wenn der Boden unter den Füßen bebt“.