Rezension zur Aalener Theateraufführung zu „Dantons Tod“
von Flavio Steinle
Unser Autor Flavio Steinle (Abitur 2015) verfasste im Rahmen des Deutschunterrichts die hier abgedruckte Rezension.
Dunkelheit erfüllt den Raum. Von allen Seiten dröhnt ein nicht enden wollendes, lautes Knistern aus Lautsprechern, gemischt mit einem leisen, aber immer weiter anschwellendem Gemurmel. Unruhe und Unsicherheit entsteht, manch einer rutscht auf seinem Sitz ungeduldig hin und her. Viele Zuschauer sind an diesem Samstagabend, den 17. Januar 2015, nach Aalen in das Wi.Z gekommen, um sich die Theatergruppe Aalens bei ihrer Premierenaufführung von Büchners erfolgreichem Drama „Dantons Tod“ anzuschauen. Doch mit diesem Beginn haben wohl die wenigsten gerechnet. Langsam schwillt das Knistern ab, schließlich liegt völlige Stille über dem Publikum. Schon früh führt der Regisseur Tonio Kleinknecht das Publikum in die unruhigen Zeiten der Französischen Revolution ein, lässt die Zuschauer das Brodeln und die Unsicherheit hautnah spüren. Fehlt eigentlich nur noch das Donnern von Kanonen und Gewehrsalven. „Ihr wollt Brot, doch sie werfen euch Köpfe hin“. Unmissverständlich wird deutlich, in welcher Lage das Volk sich befindet: Hunger, Terror, Unzufriedenheit.
Die Bühne erhellt sich und gibt den Blick frei auf einen breiten Laufsteg, zu dessen Seiten jeweils das Publikum sitzt, aufgeteilt in zwei Bereiche, zwei gegenübersitzende Hälften getrennt durch die Bühne der Schauspieler. Soll dies etwa der Versuch sein, das Publikum wie die französischen Revolutionsgruppen zu trennen, auf der einen Seite die Gemäßigten, die Dantonisten, auf der anderen Seite die radikaleren Jakobiner, die Anhänger Robespierres? Jedenfalls wenden sich die gut aufgelegten und überzeugend agierenden Schauspieler direkt an das Publikum, indem sie mit den Fingern und Händen auf die Zuschauer zeigen, und jeder einzelne versucht, das Publikum von seiner Meinung zu überzeugen. „Die Waffe der Republik ist der Schrecken, die Kraft der Republik die Tugend. Die Tugend muss durch den Schrecken herrschen“. Zusammen mit ständigem Gemurmel und einzelnen Stimmen, die sich überlagern und vermischen und von allen Seiten aus den Lautsprechern tönen, gelingt es Bruno Lehan als Revolutionsführer Robespierre, das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Er vermittelt das Gefühl, als befinde man sich in einer realen Versammlung der Jakobiner und sei selber Teil des Dramas.
An einem Ende des Laufstegs, auf einer kleinen, stufenförmigen Bühne, eröffnen Marc-Phillip Kochendörfer als Georg Danton und Kristine Walther als seine Frau Julie das Drama, das sich mit dem Todeskampf Dantons und der Auseinandersetzung mit Robespierre befasst. „Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter“, erwidert Danton auf Julies Frage, ob er noch an sie glaube. Früh wird Dantons Desillusion deutlich, er glaubt nicht mehr daran, dass die einsamen Menschen ein gemeinsames Ziel, die Errichtung eines geordneten, demokratischen Staates, erreichen könnten. Im Hintergrund spielt Matthias Anton am Saxophon. Mit seinen teils schrillen und schiefen Tönen gestaltet er den Übergang zwischen den einzelnen Szenen und untermalt Aussagen der Schauspieler je nach ihrer Gefühlslage und ruft dabei nicht nur Verzweiflung, Unruhe und Aussichtslosigkeit, sondern auch Sehnsucht, Trauer und Sentimentalität hervor. In Verbindung mit Marko Timlon, der als „Klangmeister“ an einer Soundanlage die unterschiedlichsten Klangbilder erstellt, sorgt das Saxophon für eine einzigartige, beunruhigende und nicht erwartete Atmosphäre und Spannung. Von der kleinen Bühne, die im Laufe der Inszenierung zum Rückzugsort, zum Privatraum von Danton und Julie wird, führt der Laufsteg quer über den Raum zu einer knapp 4 Meter hohen Stahlwand. In dieser sind Löcher für Hände und Kopf eingelassen, in denen später die verurteilten Figuren Danton und Camille den Tod finden werden - die Revolution frisst ihre eigenen Kinder. Der Laufsteg stellt die Verbindung zwischen Danton und dem Richtplatz der Guillotine, dem Platz Robespierres, dar. Schon nach kurzer Zeit kommt es zum Aufeinandertreffen der beiden Gegenspieler Danton, der den Glauben an die Revolution verloren hat und Robespierre, der die Revolution noch nicht beendet sieht. Dabei wird auch in der Aalener Inszenierung der Unterschied zwischen den beiden Protagonisten deutlich und zeigt die Entwicklung des Konflikts, der im Tod Dantons endet. Die Person, die redet, wird in helles Licht gerückt, die jeweils andere bleibt still stehen und wird in den Schatten gesetzt. Durch die unterschiedliche Beleuchtung wird zusätzlich der Gegensatz zwischen Danton und Robespierre dargestellt: während Danton und dessen „Privatraum“ in einem gelblich-warmen Licht erscheint, ist Robespierre und die Stahlwand auf dem Richtplatz mit einem bläulich-kalten Schimmer beleuchtet, was die Kälte und den Schrecken der Guillotine und die Skrupellosigkeit der radikalen Revolutionäre zeigt und Robespierre deutlich von Danton abgrenzt. Auf der einen Seite steht Georg Jacques Danton, dessen Desillusion, Melancholie und Lebensmüdigkeit Kochendörfer in Diskussionen mit seiner ebenso melancholischen und sensiblen Frau Julie sowie der innerlich aufgewühlten Grisette Marion (gespielt von Alice Katharina Schmid) überzeugend darstellt und dem Publikum die Fragen und Gedanken näher bringt, die ihn beunruhigen. Er ist auch der Lasterhafte, der sich vergnügt und seiner Natur gemäß handelt, also das tut, was ihm gut tut. Auf der anderen Seite steht der tugendhafte Revolutionsführer Maximilien de Robespierre. Bruno Lehan, der einen bodenlangen, braunen Mantel trägt, spielt die Rolle Robespierres als Regierungschef hervorragend und verkörpert ebenso authentisch die Politik des Terreur, die Siegesgewissheit und stellt sich in öffentlichen Reden als ebenso unbestechlich und idealistisch dar. Bei den Robespierristen denkt man in unserer heutigen Zeit vermutlich an die Dschihadisten, die muslimischen Extremisten und Isis-Kämpfer, die für die Terrororganisation „Islamischer Staat“ für eine nach dem Koran geregelte Welt kämpfen und eine Schreckensherrschaft in vielen Nahost-Gebieten errichteten. Doch droht den gemäßigten Muslimen, den Dantonisten, dasselbe Schicksal wie den vielen guillotinierten Franzosen, die sich von der Revolution bzw. dem Extremismus abwandten? Wie dem auch sei, die beste schauspielerische Leistung liefert ohne Frage Arwid Klaws als St. Just, der Rhetoriker und Ideologe des Nationalkonvents, da er mit atemberaubender Bösartigkeit die Skrupellosigkeit und den Guillotinierungseifer St. Justs detailgenau wiedergibt. Danton und seine Anhänger sollen seiner Meinung nach nicht zerstückt werden, all ihre Glieder müssten mit hinunter, denn jeder Schritt der Menschheit fordere Opfer. Er drängt den nach einem Gespräch mit Danton zweifelnden und innerlich zunehmend verunsicherten Robespierre dazu, Danton und seine Gefolgsleute verhaften und vors Revolutionstribunal bringen zu lassen. Letztendlich erreicht die Inszenierung ihren Höhepunkt auf dem Richtplatz, auf dem Danton und einer seiner Anhänger, der geistreiche und poetisierende Camille Desmoulins (gespielt von Daniel Kozian), angeklagt wird. Hierbei rückt erneut „Klangmeister“ Marko Timlon in den Mittelpunkt, weil er mit Handbewegungen abwechselnd „Danton“ und „Robespierre“ aus den Lautsprechern schallen lässt – Danton, Robespierre, Danton, Robespierre, Danton, Robespierre – und erneut die Ungewissheit und Unruhe, aber auch die Beinflussbarkeit des Volkes deutlich machte: „Es lebe Danton!“ und kurze Zeit später „Es lebe Robespierre! Nieder mit Danton!“ „Totgeschlagen!“ Auch die Marseillaise, das revolutionäre Kriegslied und Symbol der Freiheit, tönt lautstark aus den Lautsprechern und drängt das Publikum förmlich dazu, am Prozess teilzunehmen und mitzusingen. Nicht nur an dieser Stelle hat man das Gefühl, durch die von allen Seiten tönenden Geräuschen beeinflusst und in eine Mitläuferrolle gedrängt zu werden. Dennoch scheint Regisseur Kleinknecht in seiner Inszenierung den Volksszenen keine allzu große Bedeutung zuzumessen, schließlich wird das Volk im Hintergrund und als Resonanzraum über die Lautsprecher dargestellt, ohne auf der Bühne schauspielerisch mitzuwirken. Der hoch oben an der Stahlwand hängende Danton hat den Glauben an die Revolution und die Menschheit verloren, er wolle sich lieber guillotinieren lassen als persönlich guillotinieren zu müssen. Auch der neben ihm hängende Camille kann ihm seine quälende Frage, wer das Muss gesprochen habe und was in den Menschen huren, lügen, stehlen und morden würde, nicht mehr beantworten. Die Aalener Inszenierung von Büchners Werk, das er schon im zarten Alter von 21 Jahren schrieb und einige Jahre nach dem Ende der Französischen Revolution veröffentlichte, sollte dem Publikum vor Augen geführt haben, dass ein anfängliches Streben nach Freiheit ziemlich schnell in Chaos und Terror enden kann. Das sieht man nicht nur am aktuellen Beispiel des Ukraine-Konflikts. Als sich im November 2013 Demonstranten am Unabhängigkeitsplatz in Kiew erhoben, rechnete wohl keiner damit, wohin der Wunsch der Mehrheit des ukrainischen Volkes nach Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Öffnung nach Europa führen könnte. Heute befindet sich die Ukraine wie das damalige Frankreich der Revolutionäre des Liberté, Égalité, Fraternité in einem unübersichtlichen Chaos, ein Ende des Schreckens und der Toten ist nicht absehbar. Dasselbe Schema lässt sich auch am Arabischen Frühling erkennen, sei es in Ägypten, Tunesien, Libyen oder Syrien. Es kam zu Revolutionen und Aufständen in der arabischen Welt, welche die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den herrschenden Diktatoren und den bestehenden sozialen Strukturen zum Ausdruck brachte. Der Verlauf der Französischen Revolution, die Büchner in „Dantons Tod“ beschreibt und die Grundgedanken, die auch die Aalener Inszenierung dem Publikum vermittelte, sind an vielen weiteren Revolutionen der Weltgeschichte, vor allem aber auch an einigen unseres heutigen Zeitalters, erkennbar. Man denke dabei nur an das syrische Volk, das gegen Unterdrückung und für Freiheit kämpfte. Zwar konnten große Teile Syriens erobert sowie der Diktator Assad fast gestürzt werden, jedoch endete die syrische Revolution ebenso wie die französische im Chaos. Denn die öffentliche Ordnung konnte nicht aufrecht erhalten werden, und da rebellische islamistische Gruppen versuchten, ihre religiösen Vorstellungen von Staat, Gesetz und Ordnung mit Gewalt durchzusetzen, entstand ebenso eine Schreckens- und Terrorherrschaft, die letztendlich wieder in die ursprüngliche Staatsform führte. Aber wozu sollten wir Menschen miteinander kämpfen? Warum können wir uns nicht nebeneinander setzen und Ruhe haben? Büchner hatte schon vor der Abschrift seines Dramas „Dantons Tod“ in seinem Fatalismusbrief den schicksalshaften Ablauf der Französischen Revolution bedauert. Trotz allem sollte man nicht vergessen, dass die Französische Revolution zu Beginn durchaus auch Errungenschaften vorzuweisen hatte. Man denke dabei an die Einführung eines neuen Kalenders, der mit der Gründung der Republik am 22. September 1792 begann, oder an das Signal an den Rest der Welt, dass sich ein Volk gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit wehren könne. Die Staatsform müsse, wie es Camille Desmoulins treffend sagte, ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiege.
Das Drama „Dantons Tod“ gilt daher nicht nur als Werk, das in seiner Handlung die Französische Revolution innerhalb von zwei Wochen wiedergibt, sondern gleichzeitig als Werk, das auch heute noch aktuell ist.