Ein Leben im Versteck

Von Marisa Vescia (Klasse 10 b)

„Ich habe immer versucht, es so gut wie möglich geheim zu halten. Als ich mit Freunden spazieren ging, behauptete ich, ich sei einfach nur müde. Dabei wusste ich genau, worauf diese körperliche Schwäche zurückzuführen war.“

Davor, im ersten Leben, war alles anders. Die heute 46-jährige Simone wuchs wohlbehütet im Hause ihrer Eltern auf und hatte eine „rosarote“ Kindheit, in der sie viel draußen und mit anderen unternahm. Sie verbrachte an Wochenenden viel Zeit mit ihren Eltern, im großen Garten im Nachbarort, und unter der Woche ging sie mit Freundinnen reiten. Auch Tischtennis war ein Hobby. Doch im Juni 1996 veränderte sich ihr Leben: bei ihr wurde die unheilbare Krankheit „Multiple Sklerose“, kurz MS, diagnostiziert. Hierbei handelt es sich um eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der die Abwehrzellen des Körpers körpereigenes Gewebe schädigen. Die Krankheit hat so viele Gesichter, dass fast jeder Betroffene unterschiedliche Symptome entwickelt. Bei einigen verschlimmert sich die Krankheit sehr schnell, aber bei Simone hat sie eine schleichende, langsame Verlaufsform angenommen. Jedoch informierte sie sich lange Zeit überhaupt nicht über die Krankheit, aus Angst, sich Symptome einzubilden. So konnte sie viele Jahre lang noch ein recht normales Leben führen. Erst zehn Jahre später begann die „schlimmste Zeit ihres Lebens“. 2006, nach der Geburt ihrer dritten Tochter, verschlechterte sich ihr Zustand schlagartig. „Alles fing damit an, dass beim Lesen bei jedem Wort ein Buchstabe fehlte. Ich dachte, damit würde ich schon klarkommen“, sagt sie mit leerem Blick. Doch die Sehstörungen nahmen weiter zu. Wenn ihre Kinder vor ihr standen, sah sie nur noch halbe Gesichter, irgendwann nur noch eines ihrer Kinder. Das lag an einer für die Krankheit typischen Sehnerv-Entzündung und einer Entzündung im Sehzentrum. Fast jeden Tag kamen neue Symptome hinzu: ein Kribbeln in Händen und Füßen, dann am ganzen Körper; Muskelzittern und Muskelkrämpfe bis hin zu Herzrhythmusstörungen und schlimmsten Missempfindungen. Diese waren in den Beinen so stark, dass sie sich wünschte, keine Beine zu haben. Abends und in der Nacht waren die Symptome immer am schlimmsten und sie war oft kurz davor, den Notarzt zu rufen. Aber sie wollte weder Beruhigungsmittel nehmen, noch ins Krankenhaus. Sie wollte und musste bei ihren Kindern bleiben. „Ich hatte Panik im eigenen Körper und wusste, so würde ich nicht klarkommen im Leben. Wenn ich zum Beispiel eine Zutat fürs Kochen aus dem Keller holen musste, brachte ich schon meine Kinder in Sicherheit, aus Angst, nicht mehr zurückzukommen“, erinnert sie sich und holt tief Luft. In diesem Zustand drei kleine Kinder zu versorgen, ging an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Zudem bekam sie von ihrem damaligen Ehemann keinerlei Unterstützung, nicht einmal Rücksicht nahm er auf sie, was sie zusätzlich belastete. „Er nahm meine Krankheit nicht ernst und behandelte mich wie eine Mogelpackung. Ich sehe heute noch, wie er vor mir steht und sagt: ‚Da heiratet man ´ne tolle Frau und dann kommt sowas.’“ Er distanzierte sich, ließ sie im Stich. Unter diesen Umständen fühlte sie sich der Krankheit nicht gewachsen. Doch trotz ihrer Verzweiflung zu diesem Zeitpunkt, hielt sie diese schlimme Krankheitsphase vor ihren Mitmenschen geheim, sogar vor ihrer eigenen Familie. Sie versteckte sich. Denn sie wollte nicht von anderen Menschen bemitleidet werden und als krank angesehen werden. „Außerdem wäre jeder entsetzt gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass mein ganzer Körper kribbelt. Und das hätte mir noch mehr Angst bereitet“. Ihr Leben bestand weitgehend aus Ausreden. Sogar am Arbeitsplatz nahm sie lieber Urlaub, anstatt zuzugeben, dass sie in eine Reha geht. Doch als sie sich in der schwierigen Phase der Krankheit nach einem ganzen Jahr immer noch nicht besser fühlte, beschloss sie, es ihrer Familie mitzuteilen. Sie traute sich aus ihrem Versteck. „Es zu sagen, war eine große Erleichterung für mich, da ich von diesem Zeitpunkt an von meiner Familie unterstützt wurde. Und dadurch ging es mir auch ein wenig besser“, meint sie rückblickend. Dann, nach zwei, drei Jahren, verbesserte sich ihr Zustand durch die Hilfe von Heilpraktikern und durch eine Ernährungsumstellung, und sie fand so mit der Zeit wieder ins Leben zurück. Heute ist ihr größtes Problem, dass sie sehr schlecht gehen kann und sie nicht wirklich ein Gefühl in den Beinen hat. Außerdem hat sie immer noch mit starker körperlicher Schwäche zu kämpfen. „Ich habe zeitweise so wenig Kraft, dass ich nicht einmal in der Lage bin, eine Flasche zu öffnen“. Dies hält sie aber nicht davon ab, am Leben teilzuhaben. Zum einen geben ihr ihre Töchter viel Kraft und Mut, und helfen ihr in vielen Situationen.  Zum anderen steht sie ständig mit anderen Betroffenen in Kontakt, und zwar über Facebook-Gruppen. In diesen sogenannten MS-Gruppen tauschen sich die Betroffenen über ihre Erfahrungen aus und geben sich gegenseitig Tipps, wie man im Alltag mit der Krankheit umgeht. „Was ich aber schade finde, ist, dass sich viele Betroffene tagtäglich über die Krankheit aufregen, während ich versuche, nicht jeden Tag mit Kranksein zu verbinden.“ Man müsse auch in der Lage sein, die Krankheit zu ignorieren und trotzdem immer neue Ideen zu haben, wie man etwas am Zustand verbessern kann. Dadurch, dass es ihr früher so schlechtging, hat sie großes Vertrauen in die Zukunft, vor allem da sie weiß, was man alles aushalten kann. Wichtig sei auch, mit dem zufrieden zu sein, was man hat und nie die Hoffnung auf Besserung zu verlieren. Denn sie ist sich sicher: „Am Ende wird alles gut, und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende“.

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